Schutzbedürfnis

Schutzbedürfnis

Dass ich Männer mag, wusste ich schon sehr früh. Spätestens 1978 war mir das völlig klar. Das war das Jahr, in dem „Superman – Der Film“ mit Christopher Reeve in die Kinos kam. Mit 7 war ich dafür noch zu klein, um meinen Helden auf der großen Leinwand zu bewundern, aber den Trailer des Films hatte ich im Fernsehen gesehen. Unzählige Nächte bin ich damals in meinem Bett gelegen und habe davon geträumt, dass Superman kommt, mich in seine starken Arme nimmt und mit mir ganz weit weg fliegt. Ich sehnte mich nach einem starken Beschützer. Mir fehlten die hohen, festen Mauern einer uneinnehmbaren Burg, in die ich mich zurückziehen konnte, also flüchtete ich mich in die Fantasie. Denn das mit den Burgen ist manchmal ein schier unlösbares Problem: Kein Mensch kann eine Burg alleine bauen. Dafür braucht es andere, die beim Bauen und Befestigen mitwirken und helfen, die Last zu tragen. Geborgenheit ist ein vielschichtiges, vor allem aber ein soziales Gefühl. Es ist wenig zielführend, ausschließlich für sich allein danach zu streben. Zum Glück war ich damals nicht allein. Superman war da.

Ein paar Jahre später hätte ich einen realen Superman an meiner Seite gebraucht. Wir wohnten damals im 20. Wiener Bezirk, nicht weit von der Schnellbahnstation Traisengasse entfernt. In dieser kalten, nüchternen, heruntergekommenen Station gab es einen Fotoautomaten, den ich für Fotos für meinen Schülerausweis nutzen wollte. Nachdem ich die Fotos gemacht und den Automaten verlassen hatte, stand plötzlich ein fremder Mann vor mir und verwickelte mich in ein Gespräch. Dabei blieb es aber nicht. Blitzschnell zog er mich in die Fotokabine, hielt mir den Mund zu, schloss den Vorhang und begann, mich überall zu berühren, mein Gesicht abzulecken und mir seine widerliche Zunge ins Ohr zu stecken. Ich war völlig perplex und gelähmt vor Angst. Schließlich gelang es mir doch, mich loszureißen und davonzulaufen. Ich stand unter Schock. In meiner Not vertraute ich mich Erwachsenen an. Noch schmerzhafter als der Angriff des Täters war für mich deren Reaktion darauf: Sie gaben mir die Schuld am Geschehen und bezichtigten mich der Lüge. Damals stürzten die ohnehin schon porösen Mauern meiner Burg krachend ein. Ich beschloss, dieses Erlebnis für mich zu behalten und habe erst Jahrzehnte danach, während meiner ausbildungsbegleitenden Selbsterfahrung, einem anderen Menschen davon erzählt. Bis dahin begrub ich diese Erfahrung tief in meinem Inneren. Wer hätte mir schon geglaubt? Wer hätte mir diese Last abnehmen können? Ich musste einen Weg finden, diese Last auszuhalten und akzeptieren, dass ich sie eine Weile tragen muss.

Auch alte Verletzungen können heilen. Sie heilen aber mit Sicherheit besser, wenn wir uns nicht allein darum kümmern müssen. Ich lernte langsam wieder Vertrauen zu fassen und behutsam, aber vor allem auch gemeinsam, an den stabilen Mauern (m)einer neuen Burg zu bauen. Bei allen, die daran mitgewirkt haben, bedanke ich mich von ganzem Herzen.

Auszug aus meinem Buch „Die Suche nach Geborgenheit“.